Die Konfrontation mit der eigenen Familie ist oft der härteste Prüfstein für unseren Glauben. In keinem anderen Bereich werden wir so intensiv beobachtet, so leicht verletzt und so schonungslos mit unseren eigenen Schwächen konfrontiert. Gerade dann, wenn wir hoffen, unseren Lieben die befreiende Botschaft von Jesus nahezubringen, stoßen wir auf Schmerzen, Missverständnisse und Widerstände. Der Autor Randy Newman führt uns in seinem Buch Bringing the Gospel Home an einen zentralen Punkt: Bevor wir anderen die Gnade verkünden können, müssen wir selbst tief in sie eintauchen – in ihren Trost, aber auch in ihre Zumutung.
1. Gemeinsame Freude als Brücke zur Wahrheit
Newman erinnert daran, dass Gott seine „allgemeine Gnade“ (common grace) an alle Menschen austeilt, unabhängig davon, ob sie an ihn glauben oder nicht. Dies zeigt sich in den alltäglichsten Dingen: gutes Essen, Gesundheit, Natur, zwischenmenschliche Wärme. Statt immer nur von Sünde und Leere zu reden, kann es hilfreich sein, im Gespräch mit Familienmitgliedern zunächst diese positiven Aspekte anzusprechen. Wenn wir auf die Geschenke des Lebens hinweisen – ein schönes Festmahl, den Duft von Blumen, eine gelungene Familienfeier – kann das eine erste Brücke schlagen. Wer Anerkennung für gute Dinge ausspricht und dabei Gott als Geber aller Gaben benennt, zeigt, dass Glaube nicht nur Wahrheit, sondern auch echte Lebensfreude vermittelt.
2. Die Skandalhaftigkeit der Gnade begreifen
Doch Gnade ist nicht nur süß, sie ist auch schockierend. Die Bibel schildert Gottes Vergebung als etwas Radikales: Da ist ein Vater, der seinen völlig verirrten Sohn nicht nur zurücknimmt, sondern ihm überschwänglich feiert (Lukas 15). Diese Liebe ist so unverdient, dass sie uns in ihrer Großzügigkeit peinlich, ja ungerecht erscheint. Oft reagieren wir wie der ältere Bruder im Gleichnis vom verlorenen Sohn: Wir ringen innerlich mit der Frage, warum der andere – der scheinbar so Schuldige – dieselbe Liebe empfängt wie wir. Hier zeigt sich, dass Gnade unsere selbstgerechten Maßstäbe sprengt. Sie legt unsere eigene Selbstgerechtigkeit offen, unseren Drang, besser als andere dastehen zu wollen. Gnade ist also nicht nur ein Trostpflaster, sie ist ein Skalpell, das unseren Stolz aufschneidet, bevor Heilung beginnen kann.
3. Erstaunen statt Selbstgerechtigkeit
Wenn wir von der Gnade nicht mehr berührt sind, wenn wir sie für selbstverständlich halten, verlieren wir ihre transformative Kraft. Newman erzählt von Situationen, in denen er sich ertappt, andere zu verurteilen – etwa Eltern, deren Kinder Probleme haben, oder Menschen mit bizarren Glaubensvorstellungen. Doch durch die Begegnung mit ihrer Not erkennt er, dass sein eigenes Urteil „so schlecht ist, dass es eines Kreuzes bedarf“. Diese Einsicht erschüttert und verändert. Sie ermöglicht es, den anderen nicht mehr von oben herab zu belehren, sondern als Mitmensch vor Gott zu sehen: gleichermaßen bedürftig, gleichermaßen geliebt, gleichermaßen auf die Gnade angewiesen.
4. Von Angst und Schuld zur Trauer und Hoffnung
Häufig hindern uns Ängste und Schuldgefühle daran, das Evangelium in der Familie zu teilen. Wir fürchten Ablehnung oder schämen uns, nicht schon längst überzeugend genug gewesen zu sein. Die Vertiefung in Gottes Gnade macht jedoch klar: Unser Wert vor Gott hängt nicht von unserer Perfektion in der Evangelisation ab. Er hat uns trotz unserer Sünden und Unzulänglichkeiten angenommen. Das befreit uns von lähmender Angst und von unfruchtbarer Scham. Stattdessen entsteht ein heilsames Gefühl von Trauer über den Zustand unserer Angehörigen, die Christus noch nicht kennen. Diese Trauer motiviert zu Gebet, Mitgefühl und beharrlichem, aber warmherzigem Zeugnis. Gnade macht uns mutig, einladend und geduldig. Sie gibt uns die innere Freiheit, die wir brauchen, um mit unseren Familienangehörigen im richtigen Ton über Gott zu sprechen.
5. Schritte zur Vertiefung
Newman empfiehlt praktische Schritte:
Sich von Gott erneut die Augen öffnen lassen für das Wunder der Erlösung.
Andere Christen im Gebet einbeziehen, damit Familienmitglieder auch durch andere Zeugen mit Gottes Liebe in Berührung kommen.
Sich eine kurze, klare Zusammenfassung des Evangeliums einprägen („Meine Sünde war so schlimm, dass nichts Geringeres als der Tod des Sohnes Gottes sie sühnen konnte – und genau das hat Christus für mich getan.“)
Weniger druckvolle Konversationen wagen, in denen wir behutsam positive Aspekte im Leben ansprechen und Gott dahinter vermuten lassen, ohne sofort die volle Verkündigung zu starten.
Fazit: Gnade – Erschütternd und befreiend
Die Botschaft des Evangeliums ist sowohl eine sprudelnde Quelle der Freude als auch eine schmerzhafte Konfrontation mit dem eigenen Stolz. Gerade in der Familie, wo wir weder anonym noch glänzend auftreten können, tritt die Wirkung der Gnade besonders klar zutage. Sie ermutigt uns, über unsere Grenzen hinauszusehen, unsere Worte mit Dankbarkeit und Demut zu würzen und beharrlich, aber liebevoll zu bleiben. Gnade macht uns fähig, keine fertigen Heldenrollen zu spielen, sondern als begnadigte Sünder glaubwürdig von dem Retter zu sprechen, der auch unsere Liebsten umarmen möchte.
Wenn wir lernen, die Gnade als „erstaunlich und doch erschütternd“ zu sehen – also als etwas, das uns gleichzeitig staunen lässt und uns in unserer Selbstgefälligkeit erschüttert –, können wir als glaubwürdige Zeugen vor unsere Familie treten. Und das ist die beste Voraussetzung dafür, dass aus einem schwierigen Thema ein hoffnungsvoller Weg zur Wahrheit wird.
Quelle: Newman, Randy. Bringing the Gospel Home: Witnessing to Family Members, Close Friends, and Others Who Know You Well. Wheaton, IL: Crossway, 2011.
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